- Woran man Depression bei Autisten oft nicht erkennt
- Warum typische Diagnosekriterien manchmal vorbeigehen
- Innenleben, das sich anders anfühlt – und anders gezeigt wird
- Wege, um das Unsichtbare zu benennen
Manche Menschen beschreiben Depression als bleierne Schwere, andere als innere Leere, wieder andere als ständigen Druck im Kopf. Doch was, wenn man ohnehin nie genau wusste, wie sich Gefühle „anfühlen sollen“? Wenn man gelernt hat, die eigene Mimik anzupassen, Small Talk zu führen oder die passenden Floskeln zu finden – auch dann, wenn es innen stürmt?
Für viele Autisten ist genau das die Realität. Und das macht die Depression, die sie erleben, oft besonders schwer zu erkennen. Von außen – und manchmal auch von innen.
Nicht traurig genug?
Es klingt paradox, aber: Wer nicht sichtbar leidet, leidet oft am längsten. Viele Menschen im Autismus-Spektrum haben über Jahre hinweg Strategien entwickelt, um „funktional“ zu wirken – auch dann, wenn sie sich innerlich zurückziehen, erstarren oder nichts mehr fühlen.
Während bei neurotypischen Menschen eine Depression oft durch Rückzug, Antriebslosigkeit oder Traurigkeit auffällt, wirken autistische Menschen in einer depressiven Phase manchmal einfach… wie immer.
Still. Rückgezogen. Analytisch. Müde. Oder sogar pflichtbewusst – und gleichzeitig innerlich nicht mehr erreichbar.
Wenn der Maßstab nicht passt
Die gängigen Diagnosekriterien für Depressionen basieren auf Vorstellungen, die nicht immer auf neurodiverse Menschen übertragbar sind. Was bedeutet z. B. „Interessenverlust“, wenn jemand ohnehin nur wenige, aber dafür sehr intensive Spezialinteressen hat?
Was bedeutet „sozialer Rückzug“, wenn soziale Situationen von vornherein überfordern und Erholung im Alleinsein gesucht wird?
Und wie erkennt man „Traurigkeit“, wenn das emotionale Erleben weniger mimisch oder sprachlich ausgedrückt wird, sondern sich in Reizbarkeit, Rückzug, Schlaflosigkeit oder einer übersteigerten Ordnungsliebe zeigt?
Zwischen Reizüberflutung und innerem Verstummen
Depressive Episoden bei Autisten sind oft verbunden mit Reizempfindlichkeit, starren Routinen oder dem Bedürfnis, alles unter Kontrolle zu halten – als würde das Außen irgendwie Ordnung ins Innere bringen.
Gleichzeitig kann eine tiefe emotionale Erschöpfung entstehen. Nicht unbedingt durch belastende Lebensereignisse, sondern durch die ständige Anpassung an eine Welt, die sich fremd anfühlt.
Ein Lächeln aufsetzen, Smalltalk führen, sich für Dinge interessieren, die eigentlich nichts bedeuten – das alles kann auf Dauer auszehren. Und irgendwann ist einfach nichts mehr übrig.
Worte für etwas, das keine hat
Viele Autisten finden schwer Zugang zu ihren inneren Zuständen – nicht, weil sie oberflächlich wären, sondern weil Sprache oft nicht ausreicht, um das Erlebte auszudrücken.
Wie beschreibt man ein Gefühl, das eher körperlich spürbar ist als sprachlich greifbar? Wie benennt man etwas, das sich wie „Nichts“ anfühlt?
Hier beginnt die Herausforderung: Ohne Worte bleibt das Leiden oft unsichtbar. Nicht nur für andere – sondern auch für einen selbst.
Und was hilft?
Hilfreich kann ein geschützter Raum sein, in dem Sprache nicht erzwungen wird, sondern wachsen darf. In dem auch Stille Platz hat. In dem nicht die Abweichung vom Durchschnitt behandelt wird, sondern das, was gerade ist.
Auch psychoedukative Ansätze, die neurodiverse Depressionen explizit benennen, können helfen – ebenso wie Gesprächstherapie, in der Gefühlsausdrücke behutsam erarbeitet werden dürfen, ohne dass etwas „richtig“ oder „falsch“ sein muss.
Und manchmal hilft es, wenn jemand einfach sagt: „Das, was Sie beschreiben, klingt für mich sehr nach Depression. Auch wenn es bei Ihnen anders aussieht.“
Ein letzter Gedanke
Wenn etwas anders aussieht, bedeutet das nicht, dass es weniger schwer wiegt. Depression ist nicht weniger real, nur weil sie sich anders zeigt. Sie ist auch nicht weniger heilbar.
Vielleicht braucht es andere Worte. Vielleicht andere Bilder. Vielleicht eine andere Haltung.
Aber immer braucht es eines: das Wissen, dass es okay ist, so zu fühlen – auch wenn niemand es auf den ersten Blick sieht.