Anne Stangenberg

Heilpraktikerin (Psychotherapie)

Jeder hat doch ein bisschen Autismus, oder?


  • Was Menschen mit diesem Satz oft sagen wollen
  • Warum Autismus keine Persönlichkeitseigenschaft ist
  • Wie gut gemeinte Vergleiche ins Leere laufen
  • Was der Satz in autistischen Menschen auslöst
  • Was es stattdessen brauchen könnte

Vielleicht haben Sie den Satz selbst schon einmal gehört – oder sogar gesagt:
„Ach, das kenne ich! Ich mag auch keine Partys.“
„Ich bin auch nicht so gut im Blickkontakt.“
„Ich brauche auch meine Routinen. Jeder hat doch ein bisschen Autismus.“

Solche Sätze fallen oft beiläufig.
Sie sollen verbinden. Zeigen, dass man sich bemüht, zu verstehen.
Sie sind selten böse gemeint.

Und doch treffen sie oft genau ins Herz.

Was Menschen mit diesem Satz oft sagen wollen

Wer so spricht, will meist Nähe schaffen.
Möchte zeigen: „Ich kann ein bisschen mitfühlen.“
Oder: „Du bist gar nicht so anders.“

Vielleicht steckt dahinter auch Unsicherheit. Ein Bedürfnis, mit etwas Unbekanntem umzugehen. Es einzuordnen.
Oder: Es weniger „fremd“ wirken zu lassen.

Aber Autismus ist kein Persönlichkeitsmerkmal wie Introversion.
Und kein Stimmungsmoment wie Reizempfindlichkeit nach einem langen Tag.

Warum Autismus keine Persönlichkeitseigenschaft ist

Autismus ist eine neurobiologische Variante.
Eine andere Art, zu fühlen, zu denken, zu verarbeiten.
Er betrifft viele Lebensbereiche gleichzeitig – nicht nur das Verhalten, das für Außenstehende sichtbar wird.

Autismus ist nicht:

  • schüchtern sein
  • soziale Situationen anstrengend finden
  • ordentlich oder detailverliebt sein

Autismus ist:

  • anders wahrnehmen
  • anders kommunizieren
  • anders verarbeiten

Und oft bedeutet Autismus auch: über Jahre hinweg missverstanden werden.
Infrage gestellt.
Nicht ernst genommen.

Wie gut gemeinte Vergleiche ins Leere laufen

Wenn jemand sagt:
„Ich bin auch manchmal überfordert vom Lärm im Supermarkt.“
…dann klingt das verständnisvoll.
Aber für viele autistische Menschen ist genau das tägliche Realität – und nicht nur eine Momentaufnahme.

Der Unterschied liegt nicht nur im „Wie oft“, sondern im „Wie“.
Es geht nicht darum, ob etwas nervt – sondern wie tief es greift.

So ein Satz kann unbeabsichtigt das Erleben des Gegenübers relativieren.
Und manchmal auch: entwerten.

Was der Satz in autistischen Menschen auslöst

Viele autistische Erwachsene haben lange gebraucht, um zu verstehen, was mit ihnen los ist.
Um Worte zu finden für das, was nie erklärt wurde.

Wenn dann jemand sagt: „Jeder hat doch ein bisschen Autismus“, kann das wehtun.
Weil es das Besondere, das Anstrengende, das jahrelang Unsichtbare wieder verschwinden lässt.

Der Satz klingt harmlos – aber er nimmt Raum.
Raum für das, was individuell, tief und ernst gemeint ist.
Und manchmal: endlich ausgesprochen.

Was es stattdessen brauchen könnte

Vielleicht ist es gar nicht so schwer, etwas anderes zu sagen.

Etwas wie:
„Ich kann das nicht ganz nachempfinden – aber ich höre dir zu.“
„Magst du mir erzählen, wie das für dich ist?“
„Ich habe das anders erlebt – aber ich möchte verstehen, was es für dich bedeutet.“

Das öffnet mehr.
Lässt Platz für Echtheit. Für Unterschiedlichkeit.
Für das, was da ist – ohne es einordnen zu müssen.

Denn echtes Verstehen beginnt nicht mit dem Satz:
„Ich kenne das auch.“
Sondern mit der Haltung:
„Ich will dich wirklich kennenlernen.“

Und wenn wir ehrlich sind …

Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wenn jemand anders ist.
Vielleicht ist das Herausfordernde nicht das Anderssein – sondern der Versuch, es passend zu machen.

Und vielleicht beginnt Respekt nicht mit Ähnlichkeit – sondern mit der Bereitschaft, Unterschiede stehen zu lassen.

Nicht jeder hat ein bisschen Autismus.
Aber jeder kann ein bisschen mehr zuhören.

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… weil das Leben leicht sein darf.

Anne Stangenberg
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